MAGISCHE REISE
Der Mutter Erde gewidmet
Zyklus, Amerika 1980
Du bist
ein kontinent in mir
ich in dir
ein kontinent
wohin ich auch blicke
land im auge
der GÖTTIN –
DER OZEAN (Pazifik, Vancouver Insel)
geboren
im grünen seestaub
zwischen den felsen der wasserlöwen
von fliegnder gischt und pelikanen
in die hellen buchten getragen
sand unter meinen sohlen
wo ich den weg beginne
und der urwald voll kolibris
eine fruchtbare verheißung
und drüber reicht
der schnee auf gipfeln
livhtwärts –
bin ich dir am anfang so reich
wie bist DU mir
erst am ende?
DIE FJORDE (Vancouver, Küstenkette)
es brechen
die eise
auf den fjorden den seen
und sie atmen
bläue
in großen wellen
herunter von lichten
gletschern
kommt meine freude
als sturm
durch riesige kiefern
bis auf den meerspiegel
im freien fall
denn DU bist der raum
den ich brauche
den ich suchte
und fand
DER VULKAN (Mount St. Helens, Washington)
warum
verfolgst DU mich
den ich nicht rief
weder mit asche noch gluten?
warum
sprengst du mir
nordwärts die flanke nach
bis in die stratosphäre
hatte ich dich übersehn?
ich betrat dich nicht
ich beschwor dich nicht
ich forderte nicht
die heiße zerstörung als spiegel:
mein war die stärke!
DER GEYSIR (Yellowstone, Wyoming)
ich wurde verwandelt
von feuer- in wasserausbruch:
aus blauem trichter
in die luft geschossen
ein ebenmäßiges rauschen
und steile muster
von dampf
und keine pause im kochenden kern
minutenlang höher geschwungen
ein strahl aus dem anderen
bis über die ränder von wald
von wildnis von welt
eine weite aussicht –
DU hast mich verwandelt
sensibler mein zorn
der sinterfiguren und farben
aufbaut mitten im ausbruch
nun bin ich gerettet:
ein springbrunnen!
GRAND CANYON (Arizona)
wie
dich überqueren in mir
den canyon voll pyramiden
und tempeln thronsitzen
der irdischen göttin?
soll ich mich
einfach im flug
vom rand bis hinab
zum farbig geschichteten
herzen der erde
direkt in dein inneres?
soll ich in diese
sonnige unterwelt
weit offen im spiel
der wolkenschatten
die unverhofft helle
luftige tiefe?
dass DU mich
auf deinen abgründen
endlich in freiheit
trägst?
DIE WÃœSTE (Tal des Todes, Nevada)
diese wüste der bewährung
die mir kaum
zu atmen erlaubt
mich an der einsamkeit
nicht zu verbrennen
diese wüste der ergebung
in deine notwendigkeit
die schmiede auf salzfüßen
mit bleiernem amboß
die mich umformt
diese sandwüste:
DEINE gnadenlose
antwort
auf meine schonungslose
frage
DER WALD (Sequoia, Sierra Nevada)
steh ich zu deinen füßen
den uralten
mammutroten stämmen
gigantisch zum himmel
türme einer wilden
kathedrale
steh ich und warte
ob DU aus deinem geäst
dem tochterwald in der höhe
mit sternen auf mich
niederfährst
oder ob
du mich zertrittst
ERDBEBEN (Kalifornische Küste)
die erde zittert
wo ich gehe
in diesen zonen der reife
und wirft sanfte
merkliche wellen
durch alle dinge
vibriert es in mir
wo immer auf
driftenden schollen
ich gerade bin
du bist das rätsel
unter meinen füßen
der abgrund in mir
wo ich bin bist du
überall –
denn DU
GAIA
bist ICH
ich bin der WALD (insel teneriffa)
der ruhe regnet
aus den zedern meiner glieder zwischen meernebeln, die
kondensieren tropfen in kühle
und darunter sternbüschel von kiefern wie finger halten wolken
aufgespießt, entwässern sie astwärts
das füllt kelchweise lilienstauden, wo ständig mein leben weht
langhaarig im luftwirbel
da schütten sie sich ins moos aus, das tränkt den boden und
öffnet die tiefen quellen der augen
und taut abwärts die hügel, an deren fuß die grabspur in meinem
herzen: viele kleine zisternen
die sammeln alles und verschwenden alles wieder ins karussell der
röhrenadern von ton
um wüste zu bewässern und nie gesehene früchte schwanken
zu lassen auf den halmen des verschmerzten
so leicht an selbstverschwendung zu sterben und wieder
aufzuleben verzweigt und verschränkt als ein wald
der nach und nach
Eure wüste
zudeckt
Heide Göttner-Abendroth
in: Heide Göttner-Abendroth:
landschaften aus der gegenwelt gedichte 1976-1982
edition hagia 1982
ANRUFUNGEN AN DIE GÖTTINNEN (Zyklus)
FRÜHLINGSFEST (Frühlings-Tagundnachtgleiche)
göttin der wildnis lass uns verwildern!
ARTEMIS DIANA
die du den wind um den turm zischen lässt
die krusten zu brechen die alten befestigungen und panzer
die du vom turm in die landschaft fährst
über seen und wiesen wälder und alpen
die du den wagen über die gipfel lenkst
die widerstrebende schwarz-weiße sphinx im zügel
die du vorbeisausend die wolken
vom himmel reißt und aus den tälern wirbelst
dass die berge deine spuren in rauchfahnen stehn
RHIANNON EPONA
unaufhaltsame reiterin im sturm
durchs land und durch alle mauern von königshallen und widerstand
göttin der wildnis
lass uns verwildern!
göttin des frühlings mach uns neu!
OSTARA BLATHNAT
die du den sturm in die erde treibst
damit die luft wurzeln und stängel und fleisch gewinnt
die du die inspiration an den boden bindest
damit ihr körper und raum und form erwächst
die du die kraft in den keimen bist
die sogar erde und steine und felsen sprengt
die du die bleichen schösslinge anhauchst
dass sie rosa und grün sich strecken
die du die stärke des zarten bist
die unaufhaltsame kraft der kinder
das unwiderstehliche neue
göttin des frühlings
mach uns neu!
göttin aller sterne gib uns klaren blick!
SELENE HELENA
die du der scharfe mond bist, der silberne
bogen der strahlpfeil die treffsicherheit
ARIADNE ARIANRHOD
die du der silberne kranz bist
die sternenkrone das diadem der ewigen nacht
die du das silberne schloss bist das sich um und um dreht
das kosmische rad der kreisende sternenhimmel
die du die milchstraße bist die galaxie
mit der wir spiralig im universum tanzen
die du das universum bist
der wirbel das ein- und ausatmen des alls
göttin aller sterne
die du alles bist
die du alles siehst
die du alles weißt
gib uns klaren blick!
Heide Göttner-Abendroth
in: Heide Göttner-Abendroth:
magier-frau gedichte 1977-1989
edition hagia 1992